Saturday, October 31, 2009

Dynamische Krankheiten

Mein Blog "Graue Substanz" ist zu erst zu den SciLogs (BrainLogs) umgezogen und nun auf Wordpress gewandert.

Tuesday, September 29, 2009

Kopfschmerzen auch wenn man keine hat

Heute erscheint im neuem Oktoberheft der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft der Artikel Migräne - leider keine Einbildung von den Kollegen David W. Dodick und J. Jay Gargus. Der Titel mutet seltsam an. Wieso haftet der Migräne dieses Image an?

Ich finde den deutschen Titel nicht gut. Im Original hieß es "Why migraine strikes". Und darum geht es auch in diesem Artikel. Dass Migräne keine Einbildung ist, sollte eigentlich klar sein. Wenn man überhaupt im deutschen Titel einen anderen Fokus setzen will, hätte man eher noch an dieser exponierten Stelle darauf hinweisen können, dass Migräne die teuerste neurologische Krankheit ist. Denn allein die Behandlung kostet in Deutschland jährlich 500 Millionen Euro und die Folgekosten liegen nochmal mehr als eine Größenordnung höher.

Nichtsdestotrotz ist der Artikel sehr lesenswert und gut illustriert. Wie ich es von Spektrum der Wissenschaft nicht anders kenne.



Einbildung? Das erinnert mich an Erich Kästner's Kinderbuch Pünktchen und Anton. „Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge ihre Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“ So beschrieb Kästner 1931 in "Pünktchen und Anton" die Volkskrankheit, unter der nach heutigen Schätzungen ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung leidet.

Migräne ohne Kopfschmerzen, so widersprüchlich das zunächst klingen mag, kann nach der Klassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) sogar tatsächlich als eine gesonderte Variante dieser Krankheit diagnostiziert werden. Kästner ging es allerdings weniger um diagnostische Spitzfindigkeiten als um die Charakterisierung von Pünktchens Mutter als feine Dame, die sich um das Wohl von Kindern aus aller Welt sorgt, dabei aber ihre eigene Tochter vergisst. Migräne wurde damals – und heute leider zum Teil immer noch – abgetan als Hysterie oder Hypochondrie. Dieses Vorurteil klingt nun auch wieder im Titel des oben erwähnten Beitrag an und natürlich wird dem dort auch fundiert widersprochen. Aber wieso haftet der Migräne dieses Image an?

Ein Grund für die vielen falschen Vorstellungen von der Migräne ist, dass diese Volkskrankheit wissenschaftlich bisher nur schwer zugänglich war. Wie misst man Kopfschmerzen? Die Skepsis, Migräne als eine Krankheit anzusehen, beruht insbesondere aber auf der Vielzahl unterschiedlichster Symptome, die zusätzlich zu dem Kopfschmerz auftreten können. Die IHS nennt ein kompliziertes Geflecht von Symptomen. Gut bekannt sind die Hauptsymptome einer Migräne: Kopf- und Gesichtsschmerzen und ebenso die zusätzlich häufig auftretenden vegetative Begleiterscheinungen wie Übelkeit und Schwindel.

Eine weitere Form der Migräne, die Migräne mit Aura, ist schon weniger bekannt, dafür aber umso vielfältiger. Diese Form diagnostiziert man anhand von begleitenden neurologischen Reiz- und Ausfallerscheinungen, also zum Beispiel eine Störung der Sinneswahrnehmung. Die Ursache dieser neurologischen Symptome ist im Gegensatz zum Kopfschmerz mit modernen bildgebenden Verfahren messbar. Dies gelang zum Beispiel Nouchine Hadjikhani mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie. Diese neuen klinischen Erkenntnisse sind gut im dem nun vorliegenden Spektrum der Wissenschaft Heft beschrieben. Damit, also mit dem Einsatz bildgebender Verfahren, ist ein wesentlicher Schritt in in Richtung der Aufklärung der Krankheit Migräne getan.

Monday, September 28, 2009

Simulation einer Sehstörung bei Migräne

Sehstörungen bei Migräne folgen oftmals einem charakteristischen Verlauf im Gesichtsfeld. Basierend auf einer Simulation der neuronalen Netzwerkaktivität in der Sehrinde, wurde folgendes Video zur Demonstration erstellt.

Um einen richtigen Eindruck der Migräne-Sehstörung zu bekommen, müssen Sie die ganze Zeit Ihren Blickpunkt auf dem Wort "aura" in Google-Eingabefeld, welchen im Video gezeigt wird, lassen. Die Sehstörungen wandert dann relativ zum Blickpunkt im Gesichtsfeld nach rechts außen. Ein direktes beobachten ist bei einer Migräne-Attacke nicht möglich.

Bitte beachten Sie diesen Hinweis: Das Video zeigt ein flimmerndes Objekt, das für Menschen, die unter Migräne oder auch Epilepsie leiden, unangenehm sein kann.

Thursday, September 24, 2009

Die Visionen der Hildegard von Bingen

Heute erscheint der neue Film von Margarethe von Trotta über das Leben, Wirken und insbesondere die Visionen der Hildegard von Bingen.

Es wird in Fachkreisen angenommen, dass Hildegard von Bingen unter Migräne mit Aura litt und folglich ihre Visionen daher rührten.


Illustartion aus dem Hauptwerk von Hildegard von Bingen "Scivias - Wisse die Wege" fertiggestellt um 1151/2 in dem insgesamt 26 religiöse Visionen beschrieben werden


Ähnliche Vermutungen gibt es über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Bekehrung des Saulus zum Paulus, zum Beispiel von Hartmut Göbel und Kollegen in der Zeitschrift Cephalagia geäußert unter dem Titel "Headache classification and the Bible: Was St Paul's thorn in the flesh migraine?".

Daraus muss man nicht unbedingt den radikalen Schluss ziehen, seine Kinder als Atheisten zu erziehen, wie es Marvin Minsky tat. Egal ob wir nun damit einverstanden sind, dass, wie es Margarethe von Trotta interpretiert, "diese Vorgänge in ihrem [Hildegard von Bingen's] Kopf mit den Inhalten ihrer Zeit" gefüllt wurden, oder wir heute eine gehirnmechanische Interpretationen bevorzugen. Es zeigt sich einmal mehr wie wichtig Aufklärung ist. Denn diese Art von visuellen Halluzinationen und andere Störungen der Wahrnehmung treffen Menschen meist völlig unvorbereitet. Es wäre eine vertante Chance das aktuelle Interesse nicht in dieser Richtung auch zu nutzen.


Wednesday, August 12, 2009

Wednesday, August 5, 2009

Bernhard Hassenstein klärt über seine Migräne auf


Hassenstein forschte, schrieb und dichtete über die Schrecken aber auch dem naturgegebenen Privileg der Migräne mit Aura und schlägt so visionär aus den 80er Jahren eine Brücke zur aktuellen Migräneforschung


Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Hassenstein zählt zu den namhaften Forschern auf den Gebieten der Verhaltensbiologie und der biologischen Kybernetik. Er war unter anderem von 1968 bis 1972 im Wissenschaftsrat und von 1974 bis 1981 Vorsitzender der Kommission "Anwalt des Kindes" beim Kultusministerium Baden-Württemberg. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.

Ihm verdanken wir nicht nur so schöne Worte wie Tragling, Spangenglobus und, weniger schön, Höchstwertdurchlassmodell, Hassenstein schrieb auch ein unterhaltsames Essay inklusive Gedicht über seine Migräne zum 70. Geburtstag des Verlegers Klaus Piper. Das war 1981. Hassenstein, geboren 1922, litt seit seiner Kindheit an Migräne mit neurologischen Symptomen, der Migräneaura. Mit seiner Erlaubnis veröffentliche ich hier dass Essay, wobei das Gedicht in einer von ihm korrigierten Form erscheint.

Hassenstein zeichnete auch den Verlaufes seiner Sehstörungen bei Migräne in seinem Gesichtsfeld auf, ganz ähnlich einer nun veröffentlichen Studie in der Zeitschrift PLoS ONE. Hassenstein kommt schon 1981 zu den Schluss seine "private Migräne könnte dereinst zur besseren Aufklärung [...] beitragen und darauf folgend vielleicht sogar zur Linderung, Heilung oder Vorbeugung. Denn die Meßkurven beweisen, daß die Störung ... im Gehirn abläuft." Dazu und zu der Notwendigkeit über die Migräne mit Aura aufzuklären, mehr im Anschluss an sein Essay.

[Essay überspringen]


Widmung von Bernhard Hassenstein zum 70. Geburtstag des Verlegers Klaus Piper

Ein Geist im Tee
Von Bernhard Hassenstein

Zu welchem Thema kann ich etwas zugleich Unterhaltendes und Wissenschaftliches schreiben? lch wähle: "Fünf Variationen über meine Migräne".

1934

Diese Französisch-Arbeit erhielt die Note vier – damals bedeutete das "mangelhaft". Während wir zwölfjährigen Buben daran schrieben, hatte ich im linken Teil meines Gesichtsfeldes auf einmal kein Bild mehr gesehen, sondern einen grell silbern flimmernden Vorhang. So konnte ich nicht wie sonst nach links auf das Heft meines Nachbarn schauen, der viel mehr Vokabeln kannte als ich. Am Ende der Stunde begannen bohrende Kopfschmerzen in der linken Schläfe. Mir wurde schlecht, und ich wurde auf meine Bitten nach Hause geschickt.

Ein paar Tage später erfuhren wir die Noten. Eine Vier war für mich ungewohnt. Ich ging zum Lehrer, den ich liebte und verehrte, schilderte ihm das Vorkommnis und bat ihn, die Arbeit nicht zu werten. Er antwortete mit fester und freundlicher Stimme, so daß kein Widerwort möglich war; "Dann schreibe nächstes Mal eine bessere!"

1946

Inzwischen glaubte ich die Ursache der schmerzhaften Anfälle gefunden zu haben: Eine Tasse schwarzen Tees, so schien mir, bewirkte genau vierundzwanzig Stunden später eine Migräne-Attacke. Aber damals in den Nachkriegsjahren war Tee ein seltener Genuß, der um so eher kredenzt wurde, je lieber man dem Gast eine Freude machen wollte - ein Zeichen der Zuneigung. Ungern lehnte man die Gabe ab; aber die Sehstörungen und Schmerzen, die dann drohten, waren kein Vergnügen.

Um dem Dilemma zu entgehen, reimte ich ein Gedicht. Es gab der Zurückweisung des Tees eine liebenswürdige Form, und der Enttäuschung war vorgebeugt:
Migräne

Im Tee, wie gut er mir auch schmeckt,
da ist für mich ein Geist versteckt,
kommt mit dem ersten Schluck herein,
stößt sich gleich ab am Zungenbein,
schiebt sich die Tuba dann herauf,
macht das ovale Fenster auf
und schwimmt dann durch das innre Ohr
bis zu des Hörnervs Knochentor.

Nachdem er sich dort durchgequält,
ist er, wo alles ausgehöhlt.
Dort merkt er bald die dumpfe Schwüle,
und die erzeugt ihm Angstgefühle.
Da läßt ein Lichtschein ihn erhoffen,
am Sehnerv sei ein Türchen offen!
Doch wühlt er eine halbe Stunde
in dem verworrnen Faserbunde

und merkt dann, ganz darein verstrickt,
betrübt, sein Plan sei ihm mißglückt.
Dann steigt er in die linke Schläfe,
als ob er es dort besser träfe,
beginnt zu hämmern und zu bohren
vom Scheitelbein bis zu den Ohren,
bis er − nach Stunden − dann entfliegt.
Doch glaubt mir,daß es mir genügt.

Drum kann ich - mag's Euch nicht verdrießen −
von Tee nichts als den Duft genießen.

Für den mit der menschlichen Anatomie nicht vertrauten Leser sei nachgetragen: Sollte wirklich ein "Teegeist" aus der Mundhöhle ins Innere der linken Schläfe reisen wollen, so böte sich ihm tatsächlich kein besserer Weg als vom Rachenraum durch die Tuba Eustachii ins Mittelohr, von dort durch das "ovale Fenster" ins Innenohr und schließlich auf der Bahn des Nervus acusticus ins Gehirn hinein.

Übrigens hat sich die Koppelung zwischen Migräne und Tee inzwischen gelöst; jetzt genieße ich schwarzen Tee, ohne es tags darauf zu bereuen.

1956

In den Jahrzehnten etwa vom 35. bis 55. Lebensjahr − heute nicht mehr − ging jedem Migräne-Anfall eine kuriose Erscheinung voraus: kurz vor Beginn des "Flimmerskotoms" fiel für eine oder zwei Minuten ein Teil des linken Gesichtsfeldes aus. Sah ich einen Menschen an, so fehlte ihm scheinbar das linke Auge; ich mußte hin- und herschauen, um die Täuschung zu korrigieren.

Ein Erlebnis stand bevor: Endlich hatte ich eine Einlaßkarte ins Berliner Bert-Brecht-Theater ergattert. Beim Abgeben des Mantels sah ich der Garderobenfrau ins Gesicht und erschrak: Ausgerechnet in diesem Augenblick kündigte sich ein Migräne-Anfall an. Er würde mir den Theaterbesuch gründlich verderben! Zum Glück für mich hatte ich "innen" und "außen" verwechselt: Die Garderobenfrau hatte ein zugeschwollenes Auge!

Hoffentlich war es nichts Schlimmes.

1960

In Freiburg erzählte man mir von dem alten Professor Hoffmann, dessen Forschungen über Reflexe jedem Physiologen bekannt sind: Nach dem Krieg, als alles zerstört darniederlag und es kein Geld mehr für wissenschaftliche Untersuchungen gab, erforschte er seine eigene Augen-Migräne: Er erzeugte auf einfachste Weise schnell wechselndes Licht und synchronisierte es mit dem Flimmern seines Migräneskotoms. So stellte er dessen Frequenz fest und fand, daß sie etwa den Alphawellen des Elektroencephalogramms entsprach.

Habe also auch ich vielleicht durch meine Augenmigräne das naturgegebene Privileg, in mein eigenes Gehirn hineinzuschauen?

1979

Schon seit Jahrzehnten folgen auf meine Flimmerskotome keine Kopfschmerzen mehr. Ich fürchte ihr Erscheinen darum nur noch in Lebenssituationen, in denen ich auf mein Vermögen, zu lesen, angewiesen bin.

Neuerdings aber dienen meine Migräne-Attacken sogar der Wissenschaft.

In der Sehrinde, der Oberfläche unseres Gehirns im Hinterkopf, ist unser Blickfeld Punkt für Punkt repräsentiert. Die Genauigkeit der Abbildung ist im Zentrum des Sehfeldes am größten und nimmt nach den Seiten hin ab. Ein Millimeter in der Sehrinde bildet ein kleines Stück der Netzhautmitte oder ein sehr viel größeres Stück des Netzhautrandes ab. Das ist für mich keine Theorie. Während der Migräne kann ich es sehen:

Beim Beginn des einzelnen Anfalls flimmert nur ein winziges Pünktchen in der Mitte des Blickfeldes. Allmählich nimmt es an Fläche zu und wird zum flimmernden Vorhang, der nach rechts oder links sich vergrößernd langsam über das Gesichtsfeld zieht und über dessen Außenrand verschwindet. Aus der Winkelgeschwindigkeit der Bewegung − so sagte mir vor zwei Jahren ein Nervenphysiologe − ließe sich vielleicht der Ort der Störung ermitteln. Seitdem suche ich nach dem Beginn eines Anfalls ein Stück Kreide, wähle einen festen Fixierpunkt und markiere alle zwei Minuten den scheinbaren Ort des Flimmerskotoms an einer Wandtafel, einer Schranktür oder auf dem Schreibtisch. Die Entfernung zur Zeichenfläche messe ich und halte sie konstant. Drei Messungen sind mir bisher gelungen. Das Ergebnis hat mich überrascht:

Die Winkelgeschwindigkeit der Erscheinung nimmt vom Zentrum zum Rande des Gesichtsfeldes zu, und zwar dermaßen gleichmäßig, daß ihre Aufzeichnung eine exakte Parabel ergibt. In halblogarithmischen Maßstab übertragen, wird die Kurve zu einer präzisen Geraden. Mein Kollege hat mich gelobt: Noch nie sei eine so saubere Messung gelungen. Jetzt darf ich vielleicht hoffen, meine private Migräne könnte dereinst zur besseren Aufklärung der Ursachen dieser für die meisten Patienten so quälenden Störung beitragen − und darauf folgend vielleicht sogar zur Linderung, Heilung oder Vorbeugung. Denn die Meßkurven beweisen, daß die Störung nicht, wie im Gedicht behauptet, in den Sehnerven, sondern im Gehirn abläuft.

1981

Habe ich Wort gehalten und Wissenschaft unterhaltsam dargebracht? Falls ja, hat sich ein Wahlspruch meiner Kindheit bewährt: Wer aus Schaden Nutzen zieht, hat ein fröhliches Gemüt. Meine Migräne ist nicht das einzige Exempel dafür, aber eines der besten.

Aus: Pflieger M, Piper, ER (Hrsg.). Für Klaus Piper zum 7O. Geburtstag 27. März 1981. ' Piper-Verlag, Münschen 1981. © 2004 Bernhard Hassenstein, Nachdruck mit seiner Erlaubnis




Aufklärung tut Not

2004 schrieb Prof. Hassenstein mir, "Falls ich den Aufsatz heute noch einmal veröffentlichen würde, könnte ich noch zwei weitere 'Variationen zum Thema' hinzufügen." Ich traf ihn erstmals Mitte der 90er Jahre auf dem Winterseminaren von Manfred Eigen "Biophysical Chemistry, Molecular Biology and Cybernetics of Cell Functions" im schweizerischen Klosters. Dort bestärkte er mich in dem Entschluss, meine Forschung nicht nur auf die Grundlagenforschung der Migräne zu beschränken, sondern mich auch mit den klinischen Symptomen einer Migräne mit Aura wissenschaftlich zu beschäftigen. Mich faszinierte, dass die genaue Beobachtung der Migränesymptome zu einer "besseren Aufklärung der Ursachen dieser für die meisten Patienten so quälenden Störung beitragen" kann und "darauf folgend vielleicht sogar zur Linderung, Heilung oder Vorbeugung".

Einer seiner zentralen Punkte war, dass seine "Meßkurven beweisen, daß die Störung nicht, wie im Gedicht behauptet, in den Sehnerven, sondern im Gehirn abläuft". Diesen Ansatz, also über die präzise Beschreibung der raumzeitlichen Entwicklung der Sehstörungen etwas über Entstehungsort aber auch Entstehungsmechanismus zu lernen, verfolge ich bis heute weiter. Dieses Ziel läßt sich auch gut vereinbaren mit dem aufklärerischen Aspekt, der ebenso auch Hassenstein sehr wichtig war, da ich viele interessante Berichte erst über das Internet erfuhr.

Wie wichtig es ist, über diese Erscheinungen auch aufzuklären, kann am besten in den Worten von Betroffenen geschildert werden. Nachfolgend stehen Zuschriften als Reaktion auf eine Migräne-Website, herausgegeben von Dr. med. Klaus Podoll (UK Aachen) und mir. Die dort genannte deutsche Version der Website ist mittlerweile unter neuer Adresse erreichbar. Die Hervorhebung durch Fettdruck in den nun folgenden Zuschriften stammen von mir und sollen den Augenmerk auf den aufklärerischen Nutzen lenken.

"Seit gut einem Jahr leide ich an der Mirgräne-Aura ohne anschließenden Kopfschmerz, aber Sehstörungen Wortfindungsstörung und schlechtes hören. Ich wurde gründlich untersucht mit CT usw. und die Diagnose war Mirgräne ohne Kopfschmerz. Ich freue mich sehr Ihre Internetseite gefunden zu haben, weil es schön ist, die Beschwerden die man selbst hat, auch von anderen Betroffen geschildert zu sehen. Ehrlich gesagt stand ich der Diagnose etwas skeptisch gegenüber − weil: Migräne ohne Kopfschmerz nur mit Aura??!!"
(E. Schmidt, Email an Markus Dahlem, 18 Oktober 2002)

"Endlich habe ich mal eine Seite gefunden, die mir wirklich weiterhilft. Ich leider seit ca. 2 Jahren an, tja wenn ich das wüßte wäre ich schlauer, aber nach diversen Informationen auf Eurer HP [Homepage] scheint es Migräne mit Aura zu sein."
(Rosa, Email an Markus Dahlem, 15. Oktober 2003)

"Ich darf die Gelegenheit nutzen, zu sagen, daß www.migraene-aura.de [NEU: www.migraine-aura.org/de] mit Abstand die beste Website zum Thema ist. Manchmal der einzige Trost, wenn ich mal wieder von einer Aura geplagt werde und die Welt unterzugehen scheint. Weiterhin viel Erfolg."
(Jürgen Morweiser, Email an Markus Dahlem, 19 April 2004)


"Zuerst mal ein riesiges Lob für die informative Internetseite. Ich hab, ähnlich wie die anderen Leserbriefe, noch niemanden gefunden, der an der gleichen Symptomatik leidet, und da kommt man dann eben doch ins Grüblen und Zweifeln. Die Symptome, die hier dargestellt sind, decken sich ziemlich genau mit meinen." "Vielleicht könnten Sie noch anfügen, daß mir die Kopfschmerzen und Übelkeit egal sind, aber die Aura einfach Angst macht, weil man überhaupt keinen Einfluß darauf nehmen kann. Ich hatte übrigens die erste Migräne mit Aura mit ca. 12 Jahren."
(Y. R., Email an Markus Dahlem, 19. und 21. August 2005)




Brücke zur aktuellen Migräneforschung



Meßreihe des Abstandes des Flimmerskotom vom Fixierpunkt. Bernhard Hassenstein, 16.11.1980, 15.15 Uhr.

In einem Brief an Stefan C. Müller, vom 7. März, 1996, beschrieb Hassenstein wie er seine Migräne-Attacken wissenschaftlich nutzte. Hier ein Auszug:

"Wie Sie sehen, sind mir vier Messungen gelungen. Im Augenblick des Beginns der Störung − einem winzigen flimmernden Punkt meist im Zentrum des Gesichtsfeldes − rief ich meine technische Assistentin, Frau Ursula Bock, damit sie sofort mit dem Registrieren beginnen konnte. Ich setzte mich vor eine Schrankwand in 3 m Entfernung in meinem Zimmer, und mein Blick fixierte den im Schlüsselloch steckenden Schlüssel. Frau Bock hatte ein Stück Kreide in der Hand. Etwa alle 2 Minuten hatte sie mit der Kreide am Schrank eine Stelle zu markieren, an der gerade das Flimmersoktom angekommen zu sein schien. Dabei steuerte ich sie; "nach rechts − noch weiter − halt, etwas zurück − jetzt markieren!" − oder so ähnlich. Der Zeitpunkt des Markierens wurde notiert. Nach Abschluß der Beobachtung maß Frau Bock die Entfernungen der Markierungen vom Schlüssel. Dann errechnete sie den scheinbaren Sehwinkel als arc tang der Entfernung vom Schlüsselloch, dividiert durch den 3 m-Abstand. Natürlich war, all dies nur in den "Glücksfällen" möglich; wenn sich ein Anfall gerade in der Dienstzeit abspielt und meine eingespielte Mitarbeiterin zur Verfügung stand."


Ähnliche Messungen, wie Hassenstein sie beschrieb, wurden auch in den USA von einem Ingenieur durchgeführt. Anhand dieser Daten konnte Prof. Nouchine Hadjikhani (Harvard Medical School & EPFL) und ich in einer Kernspintomographie Studie nachweisen, dass Betroffene bei der Migräne mit Aura ihre Hirnwindungen im wahrsten Sinne des Wortes sehen können. Dies erlaubte uns weitgehende Einblicke in den dieser Erscheinung zugrunde liegenden Musterbildungsprozess. Diese Erkenntnis legt neue Therapieverfahren nahe, die in Berlin an der Technischen Universität nun in zwei drittmittelgeförderten Projekten in den kommenden Jahren erforscht werden sollen.

Haben Sie ähnliche Messungen durchgeführt, oder wollen Sie solche Messungen in Zukunft durchführen? Wenn Sie uns solche Daten zur Verfügung stellen, können Sie einen aktiven Beitrag zur Migräneforschung leisten. Für genaue Anweisungen wenden Sie sich bitte an mich (dahlem@physik.tu-berlin.de).